Notizen zum Kino 2: Filmkritik unter Beobachtung

Filmkritik unter Beobachtung oder: Das Kino blickt zurück
Zwischen Piraten und Verleihern um eine Geliebte werbend — Seh-Erfahrungen 2005 

Von Rüdiger Suchsland und Josef Schnelle

„Peirates: von peiráomai: versuchen, sich daranmachen, sich bemühen, streben, unternehmen, wagen; etwas versuchen oder erproben, prüfen, untersuchen oder ausforschen; sich oder sein Glück in etwas versuchen; einen Angriff wagen, den Kampf mit jemandem aufnehmen; in Versuchung führen; sich um die Gunst von jemandem bemühen; um eine Geliebte werben; aus Erfahrung lernen.“

 

Mit den Typen, die in dieser Wortstammerklärung aus einem Lexikon indirekt beschrieben werden, kann man sich auch als Filmkritiker ganz gut identifizieren. In ihr wie im Kino, wo Piraten derzeit neu in Mode kommen, erscheint der Pirat nicht primär als Seeräuber, sondern als Freibeuter und „rebel with a cause“, der ein Dasein als Grenzgänger zwischen Norm und Übertretung gewählt hat.

 

Piraten und unterschiedliche Aspekte des problematischen, vielfältigen Feldes der Rechte-Piraterie bilden den Schwerpunkt des diesjährigen Breviers des Verbandes der deutschen Filmkritik (VdFk). Wir haben das Thema nicht ganz freiwillig gewählt, eher wurde es uns aufgezwungen durch eine Debatte, die seit Jahren im Hintergrund schwelt und 2005 plötzlich eskaliert ist. Schuld daran trug vor allem das Verhalten des Filmverleihs UIP (United International Pictures). Der Verleih versuchte, die Deutschland-Premiere des Spielberg-Films Krieg der Welten zu einer hysterischen, in dieser Form noch nie da gewesenen Verschärfung der so genannten Sicherheitskontrollen bei Pressevorführungen zu nutzen. Dazu gehörte nicht nur eine absurde Sperrfristregelung – Kritiker sollten sich verpflichten, nicht vor dem Zeitpunkt des Starts über den Film zu berichten -, die Abriegelung des Kinos wie ein Hochsicherheitstrakt, die Mehrfachkontrolle von Kritikern, als handle es sich um Schwerverbrecher, sondern auch die Infrarot-Aufzeichnung von Journalisten während des Films. Dies ist nicht nur – Was passiert mit den Bildern? Werden sie ausgewertet? Gespeichert? Wer kontrolliert das alles eigentlich? – datenschutzrechtlich problematisch. Es verändert vor allem die Sehbedingungen. „Das Kino blickt zurück“ beschrieb Michael Althen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sein Empfinden und warnte vor dem „Ende des Kinos, wie wir es kennen.“

 

Die Leiden der Filmkritik sind eigentlich nicht besonders wichtig. In diesem Fall aber geht es um etwas anderes: Darum, unter welchen Bedingungen überhaupt Filmkritik in Zukunft möglich ist. Darum, wie eine Filmkritik aussehen wird, die derartig unter Beobachtung steht und stattfindet. Das berührt die Zuschauer und auch die Filmemacher, das ganze filminteressierte Publikum, das unabhängig informiert werden möchte, nicht von Kritikern, die vor den Karren eines Marketingkonzepts gespannt werden.

Darum veröffentlichte der VdFk einen Protest gegen die Vorgehensweise der UIP, der auf ungemein breite Resonanz stieß, und in allen führenden und vielen anderen Presseorganen nachgedruckt und/oder kommentiert wurde. Ein erfreuliches Ergebnis: Filmkritik kann etwas bewirken. Die Reaktionen der Kinobetreiber, der UIP und anderer Verleiher lassen hoffen, dass sich Ähnliches nicht wiederholen wird.

Weil der zumindest vorgeschobene Grund – tatsächlich ging es vielleicht eher um ein Event, oder um den Versuch, Filmkritiker noch besser zu kontrollieren und damit zu manipulieren – für die erwähnten „Sicherheitskontrollen“ die angebliche Gefahr illegaler Kopien war, haben wir verschiedene Aspekte dieser Debatte auf einer Tagung mit dem Titel „Unter schwarzer Flagge. Film- und Rechtepiraterie in der Diskussion“ mit Experten diskutiert. Auf einer zweiten Tagung ging es um das „Ethos der Filmkritik“, um ihre Unabhängigkeit gegenüber kommerziellen Zwängen und Versuchungen.

Diese beiden Tagungen und der erwähnte Protest waren erste Schritte eines längeren Weges. Unter seinem neuen, seit Ende 2004 amtierenden Vorstand löst sich der VdFk aus seiner langjährigen, selbstverschuldeten Erstarrung. Filmkritik muss sich auch zu filmpolitischen Themen und in Fragen, die die eigenen Arbeitsbedingungen betreffen, wieder stärker zu Wort melden. Wir brauchen, anders gesagt, mehr Selbstbewusstsein, mehr Mut auch zur eigenen Unabhängigkeit und dazu, Versuchungen zu widerstehen. Filmkritiker sollten keine verkappten Pressesprecher sein, und keine „Durchlauferhitzer“ (Claudia Lenssen im Jahrbuch 2005) fürs Marketing. In der Praxis vermischt sich das Thema Piraterie daher mit dem Versuch, von manchen Seiten aus die Berichterstattung zu manipulieren, bzw. „gleichzutakten“ (so Hans-Georg Rodek in „Die Welt“ zum Fall UIP).

 

Dieser Themenkomplex wird im vorliegenden Brevier umfangreich dargestellt und kommentiert, sowie um einige Beiträge zu anderen Themen ergänzt. Wir freuen uns, dass es damit zum zweiten Mal die Möglichkeit gibt, die Aktivitäten der Filmkritik und des Verbandes in einer eigenständigen Beilage darzustellen. Auch in diesem Jahr handelt es sich nicht um Verlautbarungen, sondern um Momentaufnahmen, Zwischenbilanzen. Die Aufgabe der Filmkritik ist es, das Kino zu beobachten, Tendenzen des Weltkinos und ihren medienpolitischen Rahmen aufzuzeichnen und zu kommentieren. Durchaus mit den oben so charmant beschrieben Mitteln der Piraten: frei, niemand verpflichtet außer dem Kino selbst, um diese Geliebte werbend; aus Erfahrung lernend. Und manchmal muss man dann eben „sein Glück versuchen, einen Angriff wagen, den Kampf mit jemandem aufnehmen.“ Schon weil sie auch umgekehrt unter Beobachtung durch Freunde wie Gegner steht, sollte Filmkritik auch immer wieder sich selbst beobachten. Filmkritik ist schließlich Kultur des Sehens.

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