Notizen zum Kino 2: Bett oder Knast – Hitler tanzt mit dem Zaren

Bilderklau in der Filmgeschichte
Von Wolfgang Hamdorf

Die Bilder sind dem Kinogänger mittlerweile bis zum Überdruss bekannt: Eine junge Frau, bereit in dunkler Unterwäsche versucht ihren Freund vom Computer weg ins Bett zu bekommen. Aber der will lieber weiter seine Raubkopien brennen. Ihre letztes Argument: „…entweder du kommst jetzt ins Bett, oder ich hol die Polizei“  , „Hart aber gerecht“, kommentiert eine sonore Übervaterstimme, denn Raubkopie sei kein Kavaliersdelikt und am Ende ergänzt die schnippische Stimme der jungen Frau: „Bett oder Knast“. Die Replik auf solch moralische Brachialerotik steht seit geraumer Zeit im Internet: Mit quäkigen Mickey-Mouse-Stimmen und hämmernden Techno-Rhythmen wird der ursprüngliche Spot ins Absurde geführt:

„Hey kommst mit ins Kino“ fragt jetzt die junge Frau „Nöö, wieso sollte ich?“ murmelt er äußerst beschäftigt – „Heute kommt ein neuer Film in die Kinos, außerdem warst du schon seit Jahren nicht mehr mit mir im Kino, da könntest du echt mal wieder mitkommen, du kannst doch nicht nur vorm Rechner sitzen und  Film auf Film gucken, das gibt’s nicht. „Der Film, der heute in die Kinos kommt, liegt schon seit Wochen auf meiner Festplatte.“ „Das ändert natürlich einiges, dann können wir ihn ja zu Hause gucken.“ In einem anderen Spot fragt sie ihn, ob er wüsste, dass wieder mal die Regierung gestürzt sei und Raubkopierer jetzt ins Lager kämen und er nur knapp antwortet: „Dann machen wir eben wieder Revolution.“ Sieben Variationen desselben Bildmaterials, immer mit dem auch ganz stark an den Originaltext angelehnten Schlusstitel mit Off-Kommentar:

„Hart aber gerecht, Raubkopierer sind einfach nicht zu stoppen und die Filmindustrie hat Pech gehabt, weil sie ihre Produkte einfach zu teuer macht. Raubkopierer weiter so!“

Im Internet findet sich auch eine Neugestaltung der ersten halben Stunde der Fantasy-Saga Der Herr der Ringe, hier wurde mit Liebe zum Detail eine neue Tonspur geschaffen in breitestem Siegerländer Platt kommentieren Hobbits, Zwerge und Zauberer jetzt verworrene Dorf und Kneipengeschichten, die mit der Tolkienschen Phantasmagorie. So unterschiedlich die Beispiele auch sein mögen, je pathetischer, je eindimensionaler der Originalzusammenhang, umso leichter ist es offensichtlich ihn durch eine neue Montage der Bild- und Ton Ebene ad absurdum zu führen. Aber auch das scheinbar objektive Bild wird durch den Kommentar definiert, wie es auch Chris Marker 1958 in seinem Film Lettre de Sibérie die Ansicht der Stadt Jakutsk dreimal kommentieren lässt – kommunistisch-überschwänglich, antikommunistisch und abwägend-neutral. Aber Chris Marker zeigt in den meisten seiner Filmen auch, dass die Umstrukturierung des Inhalts, die Bilder nicht als festen Block belassen muss, sondern die Umstrukturierung der Aufnahmen über den Schnitt oder die Veränderung über die nichtverbale Tonebene, über Geräusche, über Musik etc, wesentlich subtilere Möglichkeiten der Sinnveränderung oder der neuen Sinngebung bietet.

Der spanische Filmemacher Basilio Martín Patino hat seit den 70er Jahren immer auf Wochenschau- und Dokumentarfilmaufnahmen des Francoregimes oder aus dem spanischen Bürgerkrieg zurückgegriffen. Für ihn ist die Montage von Fremdmaterial ein fast magischer Akt:

„Ich bin kein Surrealist, aber die Montage funktioniert ähnlich wie der Surrealismus. Eine neue überraschende Kombination löst einen Effekt beim Zuschauer aus. Aber ob und wie das funktioniert, das ist immer ein neues Rätsel. Ich glaube, zum Filmemachen gehört ein gutes Stück Surrealismus und ein Stück Bosheit, dann kann es funktionieren.“

Die Möglichkeit die ursprüngliche Aussage, die Richtung der Propaganda durch Montage von Bild- und Ton Elemente zu demontieren oder in ihr Gegenteil, der so genannte Bumerang-Effekt bei dem die Propaganda auf ihren Urheber zurückfällt hat eine hat eine lange Tradition in der Filmgeschichte. Eine Tradition, die auch ganz eng mit der Piraterie, mit dem Raub von Filmaufnahmen zusammenhängt. Vermutlich waren es zunächst die Kinobesitzer selbst, die Anfang des 20. Jahrhunderts Aufnahmen von exotischen Wildnissen und Kriegsschauplätzen für ihr Publikum montierten und noch in den 10er Jahren war es kommerzielle Praxis die eigenen Filmen mit „stock shots“ zu bereichern, also aufwändige Szenen wie Seeschlachten, Kriegsszenen oder Landschaftspanoramen aus dem Archiv zu holen. Nach der Oktoberrevolution erarbeite Esfir Shub aus den offiziellen Filmaufnahmen des vorrevolutionären Russlands und aus Privataufnahmen der Zarenfamilie mit Filmen wie Der Untergang der Romanow Dynastie“ eine neue Sicht auf das vorrevolutionäre Russland, wenn sie etwa auf tanzende Aristokraten den Zwischentitel „Schweiß…“ und darauf Bilder schwer arbeitender Landarbeiter montiert. Diese neue Sinngebung über die Kontrastmontage schildern Bela Balasz und auch Siegfried Kracauer anhand eines Beispiels aus der Weimarer Republik 1928.“Der Volksverband für Filmkunst“ eine Berliner-Arbeiter-Filmorganisation kaufte alte, längst abgespielte UFA-Wochenschauen und montierte sie zu neuen Bildreihen: „Sankt Moritz: Eislaufkonkurrenz und das glänzende Publikum auf den Hotelterrassen. Auch das ist Sankt Moritz: Die zerlumpte traurige Kolonne der Schneeschaufler und Streckenkehrer. – Eine glänzende Militärparade und gleich danach: Bettelnde Kriegskrüppel.“ Die Polizei verbot diesen Umschnitt alter Wochenschaubilder sofort – damals noch aus politischen und nicht aus urheberrechtlichen Gründen.

Zum ersten wirklichen Schlachtfeld der Propaganda und Gegenpropaganda wurde der spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939. bereits die ersten Bilder, Aufnahmen aus dem revolutionären Barcelona wurden zur Waffe gegen ihre Urheber. Hatte das anarchistische Filmteam noch die Bilder von verbrannten Kirchen und zur Schau gestellten Mumien des Salesienserklosters euphorisch als Akt antiklerikaler Aufklärung gepriesen, wurden die gleichen Aufnahmen auf den Schneidetischen der NS-Propaganda in Berlin zur Propagandawaffe; zum visuellen Beleg des „Roten Terrors“. Die disperse Herkunft des Materials wird dabei zum Authentizitätssiegel, so wird der NS-Kompilationsfilm Helden in Spanien mit dem Zwischentitel eingeleitet:

„Kameraleute, von denen drei in treuer Pflichterfüllung ihr Leben hingaben, schufen dieses Dokument. Der Film zeigt harte Wirklichkeit der kämpferischen Fronten. Die Aufnahmen sind nicht gestellt. Das Bildmaterial der rotspanischen Seite fiel Francos Truppen bei ihrem siegreichen Vormarsch in die Hände.“

Aber auf Seiten der Republik wurde das Material des Gegners mit dem eigenen zu neuen Zusammenhängen ergänzt. So leitete Luis Buñuel in der spanischen Botschaft in Paris eine Propagandaabteilung, die sich nur der Herstellung prorepublikanischer Kompilationsfilme widmete.

Das Spiel von Propaganda und Gegenpropaganda setzte sich im Zweiten Weltkrieg fort. Besonders Leni Riefenstahls Aufnahmen der pathetischen Selbstinszenierung des Regimes reizten zur Demontage wie die Verwendung von Fragmenten der Riefenstahl-Filme in Frank Capas Kriegsdokumentationsserie Why We Fight zeigt. Andere bringen die Diktatoren zum Tanzen: Für Cavalcantis Yellow Cesar lässt der Schnitt Mussolini zur Walzermusik einen Schritt hin und einen zurück machen und die Wochenschauaufnahme  von Hitlers Hitler, der nach der französischen Kapitulation fröhlich aufstampft, wurde unter den Händen alliierter Schnittmeister zu skurril komischen Totentänzchen. Die Verwendung von eigenen und gegnerischen Archivmaterialien setzte sich auch im kalten Krieg fort, etwa in der DDR-Dokumentarfilmreihe „Archive sagen aus“. Darin verbinden Andrew und Anneli Thorndike bundesdeutsches Wochenschaumaterial mit NS-Materialien um BRD-Politiker als Nazis zu enttarnen. In den sozialen und emanzipatorischen Bewegungen der 60er, 70er und 80er Jahre rückt aber zunehmend die Auseinandersetzung mit Film und Fernsehen als Träger des politischen Systems in den Vordergrund – in Videos der italienischen und deutschen Hausbesetzerbewegungen werden Nachrichtensendung und Wahlwerbespots demontiert als „Scheinwirklichkeit“ produziert. Die Demontage der Dominanz herrschender Bilder und ihre Neustrukturierung und Neudefinition ist auch ein Anliegen der Archivkunstfilm- oder „Found-Footage“ Bewegung. So sieht Sharon Sandunski, eine der erfolgreichsten Found-Footage-Filmemacherinnen der USA in der Neumontage der Materialien einen Weg sich mit den eigenen Wurzeln vertraut zu machen: „Amerika repräsentiert eine arrogante Ideologie des endlosen Wirtschaftswachstums ohne Rücksicht auf die Folgen, die dieses mit sich bringt. Die Bevölkerung wird durch Fernsehen, Nachrichtensendungen, Dokumentationen, Schul- und Werbefernsehen, Natur- und Industriefilme schlichtweg verblödet. Der Archivkunstfilm ist ein erster und wichtiger Schritt um diesen Prozess der Gehirnwäsche durch eine Analyse unserer kulturellen Voraussetzungen umzukehren, indem man sich mit den Artefakten auseinandersetzt, die dazu beitrugen, unsere Glaubenssysteme hervorzurufen.“

In diesem Kontext forderten Found-Footage-Filmemacher immer eine größere Freiheit im eigenen Umgang mit audiovisuellen Materialien, Copyright dürfe nicht über der Freiheit des Ausdrucks stehen. Vielleicht fehlt heute bei der ganzen „Hart aber gerecht“ Rhetorik, den apokalyptischen Szenarien durch mafiöse Massenware provozierter Millionenschäden, einfach die Möglichkeit, die kulturelle Ausschlussklausel zumindest zu denken.

Wolfgang Hamdorf
© VdFk 2006

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