Notizen zum Kino 1: Digitales Kino

2004 – Odysse im Cyberspace
Der epochale Einbruch des Digitalen in die Filmwelt
von Günter Jekubzik

 

Der Fortschritt schreitet niemals gerade und geht zeitweise seltsame Wege. Keineswegs verhält er sich zwangsläufig oder rational; der Siegeszug der mediokren VHS-Kassette wider besseres Wissen ist nur ein beliebtes Beispiel. Nun vollzieht sich der Wechsel des Mediums Film von seinem namensgebenden Trägermedium zu einer vom Material unabhängigen Datenmenge. Allerdings nicht wie prognostiziert unter Leitung der Major-Produzenten und der führenden Kinoketten, sondern illegal, rebellisch oder als kleine Graswurzel-Revolution. Das Jahr 2004 erlebte eine Wende beim "digitalen Mundraub" der Filmpiraten sowie bei der digitalen Projektion in kleinen Kinos. Irgendwo innerhalb dieser weltweiten Auseinandersetzung wird die Filmkritik gebeutelt – vielleicht mit Absicht.

Nach Hause via Satellit

Es war eine erschreckende, uncineastische, aber praktische Vision: Die Pressevorführung kommt als Datei per Satellit oder Kabel zum Kritiker nach Hause. Alle, die schon immer am liebsten per Video das neue Angebot der Verleiher gesichtet haben, bekommen bessere Qualität. Anderen können zumindest einige Szenen noch mal selektiv sehen. Soweit die Utopie, der einige verächtlich, andere reizvoll entgegen geblickt haben.

Die Realisierung ließ auf sich warten, und derweil hat ein Piraten-Modell die Vakanz erobert: Fast jeden großen Film kann man spätestens in der ersten internationalen Startwoche im Internet finden und sich zur privaten Vorführung herunterladen. Vor allem große US-Produktionen, aber auch Neuheiten anderer Kinonationen wie Frankreich oder Spanien sind schon Wochen vor dem Starttermin und noch vor der deutschen Pressevorführung zu sehen. Die Qualität variiert von "Handkamera live aus dem Kino" mit elender Tonaussteuerung bis zum exzellenten DVD-Standard. Für die deutschen Produktionen interessieren sich die Kopierer, die sich rebellisch gebenden Ripper, noch nicht so sehr, daher landet nur ausnahmsweise mal ein deutscher Film vor dem Starttermin im Netz. Doch ab Donnerstag ist dann auch das einheimische Produkt nicht mehr sicher vor Verbreitung im Untergrund. Entsprechend läuft es auch mit deutschen Synchro-Versionen.

Nun kann dies alles keine Basis für Filmkritik sein, doch es ist vertrackt: Wegen der kopf- und ziellosen Piraten-Panik der Verleiher wird es den Filmkritikern schwerer gemacht, ihrer Arbeit nachzugehen (Filme zu sehen) und deshalb interessieren sie sich auch für die illegalen Möglichkeiten. Wo früher der kleine Film ausnahmsweise oder zum zweiten und dritten Male auf Video gesichtet wurde, tauschen Kollegen nun untereinander die Raubkopien aus. Eine Besorgnis erregende Entwicklung, die sich Verleiher und treu folgende Agenturen selbst eingebrockt haben.

Gescannt und gepixelt

Mittlerweile fühlen sich Journalisten als die Islamisten der Filmindustrie: Die Presse wird (wieder) zum Feind. Früher war sie immer wieder wegen negativer Berichterstattung wahlweise zum amerikanischen oder zum deutschen Film schuld an schlechten Einspiel-Ergebnissen – für meist schwache Filme. Nun gilt wegen des Kopie-Verdachts bei Pressevorführungen höchste Sicherheitsstufe. Jeder wird mit Metalldetektoren gescannt. Die möglichen Einspielverluste eines Films werden tatsächlich besser geschützt als das Leben von Flugzeugpassagieren! Nur murrend wird hingenommen, dass man auch die historischsten Handys abgeben muss. Die vor allem körperlich gut entwickelten Wachleute dürfen nicht entscheiden, ob die elektronischen Dinger auch nur entfernt in der Lage sein könnten, zehn Sekunden Grobgepixeltes aufzunehmen. (Und dass gerade Journalisten zu den Wenigen gehören könnten, die tatsächlich für dringende Fragen der Redaktionen erreichbar sein müssen, interessiert auch niemanden.) Das kostet regelmäßig eine halbe Stunde Ein- und Auscheckzeit vor und nach dem Film. Ganz ehrlich: Wie viele Filme sind es überhaupt wert, dass man diese Schikanen über sich ergehen lässt?

Und um welche Verluste geht es eigentlich? Die im schlechten Kinojahr 2003 geschätzten und dreist als absolute Wahrheit verkauften Fantasiezahlen erwähnten im Erfolgsjahr 2004 nur noch die unverschämtesten Propagandisten. Die Wahrheit kennt niemand, da es keine Hitparade der illegalen Downloads gibt. Und ob die Privatsichtung nicht doch zum Kinobesuch anregt, weiß auch keiner. Derweil lief der ach so schätzenswerte Film schon mal in öffentlichen, unkontrollierten Previews oder in anderen Ländern mit früherem Start ohne jede Kontrolle. So gab es etwa im Falle von Polarexpress einen Tag vor den angekündigten Hochsicherheitsvorkehrungen bei der Pressevorführung Hunderte öffentlicher Previews im Lande. Dieser Absurdität begegnet man öfter, wenn man über die Grenzen schaut, dann ist bei uns noch Staatsgeheimnis, läuft in Frankreich oder den Niederlanden längst im Kino.

Überhaupt ist dieser Generalverdacht eine Beleidigung der Zunft: Welcher Kollege würde nicht jeden Abfilmer in einer Pressevorführung sofort melden? Eine Taktik der Blockbuster-Produzenten macht die Situation noch schlimmer: Ganz selbstverständlich werden Der Herr der Ringe, Harry Potter und ähnliche Geldmaschinen erst wenige Tage vor dem internationalen Parallelstart gezeigt. Macht als Anti-Kopiermaßnahme Sinn, ist für die Kritik aber eine Katastrophe. Publikationen mit längerem Vorlauf berichten ebenso wie die meisten TV-Sender nur noch über die Hypes – die Kritik ist weniger denn je gefragt!

Die Quintessenz dieses bewusst persönlichen Lamentos: Keiner hat eine Ahnung, wie das Abfilmen gestoppt werden kann, aber bei der Industrie gilt anscheinend: Hauptsache, man tut irgendetwas. Rechtzeitige, sinnvolle Maßnahmen wurden hingegen versäumt. Eine kluge Kodierung der Filme würde den Datendiebstahl leicht nachverfolgbar machen. Damit wären Pressekopien in DVD-Qualität mit Original- und Synchron-Ton kein Problem. Wer würde seinen Job riskieren, indem er eine Pressekopie weiter gibt? (Dass jeder Schutz irgendwann geknackt wird, sollte nur einen weiteren Anreiz für die Industrie darstellen, ihr Produkt innovativ zu schützen.)

Das ist jedoch schon wieder Utopie. In der Realität nervt bei Presse-DVDs in den USA nicht mehr nur eine regelmäßige Einblendung von Warntexten: "Wenn Sie diesen Film gekauft haben – zeigen sie sich bitte unter folgender Nummer selbst an." Auch werden Teile der Filme in Schwarz-Weiß gezeigt – obwohl es sich dabei nicht um Rückblenden handelt. Man senkt einfach die Qualität des Materials, verändert das Werk. Diese Versionen sind ja nur für die Presse. Im Unterschied zwischen "Produkt"(-Beratung) und "Werk"(-Kritik) liegen die Probleme im Verhältnis von Industrie und Filmkritik. Irgendwo vor diesem Sturm der Veränderung treibt der Filmkritiker und muss sich entscheiden, ob er das Werk zum frühest möglichen Zeitpunkt sieht oder ob er wartet, bis das Produkt vom Verleiher mit Verspätung präsentiert wird.

Graswurzel-Revolution: European Docuzone

Andere bekommen den Film jetzt ganz offiziell nach Hause geschickt: Die Arthouse-Kinos, die sich an der European Docuzone beteiligen, Überholen mit der Einführung digitaler Projektoren die Pläne der großen Mainstream-Häuser. Bei EDZ (European Docuzone) kommt der Film einmal die Woche als Datenstrom per Satellit, nicht als Filmrollen per Kurier.

Die Revolution steckte in der Warteschleife: Das digitale Kino wurde als große Einsparmöglichkeit beim Vertrieb schon lange entworfen, Milliarden sollen in der Umstellung von Film auf Bits stecken. Unklar und umstritten blieb allerdings, welches Geschäftsmodell sind durchsetzen würde.

Weltweit werden jährliche Ausgaben von drei bis fünf Milliarden Euro für Filmkopien und Transport kalkuliert. Allein in Deutschland kommt man auf der Basis von 2001 (50.000 Kopien mal 1.200 Euro pro Kopie) auf 60 Millionen Euro Kopienkosten, dazu circa 15 Millionen für Transport. Gewaltige Beträge, erst recht, wenn auch einmalige Investitionen von 30 Mrd. Euro erwähnt werden. Wer sie leisten soll, ist noch ebenso umstritten wie die technische Umsetzung. Dabei könnte dieser Systemwechsel auch die Aufteilung der Wertschöpfungskette völlig verändern. Wenn die Studios die Investitionen übernehmen, könnten die Kinos in eine noch größere Abhängigkeit geraten. Springen die Filmtheater in die finanzielle Bresche, können sie auf den digitalen Projektoren nicht nur Filme, sondern auch Fernsehen, Live-Übertragungen und andere Programme zeigen.

An vielen Details dieser Utopie, die laut Majors 2005/2006 Realität werden soll, bastelt man allerdings noch überall auf der Welt. Die Großen bremst unter anderem der Streit ums Format: Die DCI (Digital Cinema Initiatives), die Arbeitsgruppe der Majors zum digitalen Kino, propagiert zurzeit die Einigung auf 2K – das bedeutet eine Auflösung von 2048 mal 1556 Pixel. Die Spielfilmproduzenten aber wollten mit 4K (4096 mal 3112 Pixel) projizieren. Aber schon wird auch über 1,3K geredet! Derweil die Major-Dinosaurier in den USA Gerätkonstellationen testen und wohl aus Angst vor digitalem Diebstahl übervorsichtig agieren – und damit auch die deutschen Töchter abwarten -, ergriff Docuzone unter Federführung des kleinen Berliner Verleihs Salzgeber die Initiative. Ende 2004 brachte man digitale Projektoren und Inhalte in die Programmkinos. Zwar sollen in erster Linie europäische Dokumentationen gezeigt werden. Doch die European Docuzone (EDZ) muss als erstes Finanzierungsmodell für Digitales Kino in Deutschland betrachtet werden.

EDZ ist ein Verleih- und Kino-Netzwerk für den digitalen Vertrieb von Dokumentarfilmen, wobei die Geräte – Projektoren, Server und Satellitenempfänger – von der EDZ, also im Prinzip vom Verleiher gestellt werden. Die Mindestgarantie beträgt 100 Euro, von denen 50 Euro an den Lizenzgeber fließen und die andere Hälfte in die Refinanzierung der Systeme.

Die für Mainstream-Kinos vorgesehenen Projektoren kosten 100 000 Euro pro Gerät! Die für EDZ anvisierten Projektoren sind wesentlich kostengünstiger, arbeiten allerdings auch mit kleinerer Auflösung (1,3K), was für kleinere Säle im Arthouse-Bereich ausreichen soll. Auch geht Björn Koll von Verleiher Salzgeber, der EDZ federführend vorantreibt, davon aus, dass viele der Filme „sowieso schon mit einer DV-Kamera gedreht" wurden. Was die Kinos jeweils für die Projektoren zahlen sollen, scheint Verhandlungssache zu sein.

Ein Tochterunternehmen von Salzgeber überspielt als Play-Out Center die Filme in die Kinos. Möglichst per Satellit, notfalls per Datenträger (DVD). Dies stellt für den Wandel der Verleihstrukturen ebenfalls einen visionären Schritt dar, denn der Verleiher der Zukunft könnte ein technischer Verteiler sein, eine Aufgabe für die sich auch Kommunikationsunternehmen wie Telekom mit der Abteilung T-Systems berufen fühlen.

Die Auswahl der Filme soll einem unabhängigen Gremium obliegen. Hier, bei einer der deutlichsten Veränderung zu bisherigen Verleihstrukturen, gab es Diskussionen mit anderen Verleihern (Piffl, Neue Visionen, Timebandits, Real Fiction, Pegasos, Ventura) bezüglich einer befürchteten Monopol-Position von Salzgeber in diesem Modell. Auch Kinos befürchten eine mangelnde Mitbestimmung. Ihnen eröffnet sich mit den digitalen Projektoren – gegen eine stundenweise Leihmiete – allerdings auch eine neue Unabhängigkeit von den Verleihern: durch die Möglichkeit des E-Cinemas,  Der Nutzung von Technik für Live-Übertragungen oder andere Events. Und auch das von Joachim Ortmanns (Lichtblick Film- und Fernsehproduktion, Köln) beim Filmkongress angedachte Agenturmodell passt hier herein: Filme ohne festen Starttermin können flexibel auf Abruf eingesetzt werden.

Mit der EDZ ist auch ein erster Schritt getan, eine immer wieder erwähnte Gefahr abzuwenden: Die hohen Investitionskosten würden kleine Kinobetreiber und Verleiher vom Markt drängen. Allerdings könnten sich zwei Klassen von Kinos, zwei ganz unterschiedliche Verleihbereiche herausbilden. Im Bereich der Großproduktionen geht die Tendenz zu weltweit zeitgleichen Starts, welche das klassische Tätigkeitsfeld der Verleiher stark ausdünnen. Kreativität ist hingegen bei den kleinen Verleihern gefragt, die mit geringerem finanziellem Risiko, aber dadurch auch mit einer ungeahnten Menge von Filmen rechnen müssen. Die ganz ferne Zukunft enthält ein Horrorszenario für die Verleiher: Wenn bei weiterer Datenkompression irgendwann an den Abspielorten einfach alle Filme immer verfügbar sind, braucht es nur ein Abrechnungssoftware und keine Verleiher mehr, sondern nur noch Produktionsgesellschaften. Hinter den verschiedenen Modellen einer neuen Wertschöpfungskette steckt immer eine Idee – jeder der bislang Beteiligten möchte ein größeres Stück vom Kuchen bekommen. Zwar ist dabei keine Goldgräberstimmung zu verspüren, doch die Situation erinnert an wilde Verhältnisse zur Stummfilmzeit, aus denen sich die zum Teil heute noch existierenden großen Player mit ihren vertikalen Verleihstrukturen entwickelt haben. In einem Extremfall übernehmen Produzenten und Verleiher über die Finanzierung der neuen Technik schleichend die Kinos. Im anderen Fall bedienen sich die Kinos mit Filmen wie aus dem Katalog, das Element „Verleih" wird durch „Verteiler" ersetzt. Doch bis auf das Pilotprojekt EDZ gilt einstweilen: Nichts Genaues weiß man nicht.

Das Imperium schlägt daneben

Pünktlich zum Redaktionsschluss kommen die neuesten Meldungen von der Front: Dem Beispiel der Musikindustrie folgend, geht die MPAA (Motion Picture Producers Association of America) jetzt gezielter gegen die Internet-Netzwerke vor, in denen ihre Filme gratis verteilt werden. Im Dezember 2004 verabschiedeten sich einige der Bit-Torrent-Websites, auf denen all die downloadbaren Filme komfortabel gelistet waren.

Ein raffinierter Zug der MPAA: Nicht das Verteiler-Netz selber oder die ihm zugrunde liegende Bit-Torrent-Software wird angegriffen, sondern die rechtlich völlig unschuldigen Websites, die nur Informationen sammeln und – ausdrücklich – keine illegalen Daten beherbergen. (Die Musikindustrie hat ihre leidvollen Erfahrungen bei endlosen juristischen Auseinandersetzungen mit den Software-Entwicklern von KaZaA gemacht.) So sind die heimlich im Kino, in Kopierwerken oder bei der Postproduktion abgegriffenen Werke noch immer im Netz, die Software zum Verteilen ist auch da, nur man findet die Filme nicht. Die Ripper, die Gangs, die es sich zum Ziel gesetzt haben, möglichst früh neue Filme ins Netz zu stellen, können ihren Sport unbehelligt weiter treiben. Sie sind die eigentlichen Rebellen, die teilweise im Imperium der Filmindustrie arbeiten und Material nach außen schmuggeln.

Allerdings sind inzwischen auch  Gegenmaßnahmen der "Rebellen" angekündigt. Die Klagewelle der Industrie betrifft nur Bit-Torrent-Sites, die auf Servern in den USA liegen. In Kanada sind sie ebenso sicher wie auf kleinen Karibikinseln oder in Europa.  Bit-Torrent übertrug wesentlich schneller als KaZaA, zudem frei von den Mülldateien und Viren, die Agenturen im Auftrag der Industrien unter verführerischen (Film-) Titeln offerierten. Das Netzwerk war weitgehend anonym. Wenn ein Tracker einen Film als Datei zur Verfügung gestellt hatte, stürzten sich die Leecher (Sauger) darauf und wurden selber zu Verteilern im eigens entstandenen Netzwerk. In der neuen Lösung, der Software Exeem, würden die Tracker verschwinden, und dank der Suchfunktion werden auch Bit-Torrent-Sites überflüssig. Eine neue Runde Digitale-Rechte-Krieg wird eingeläutet. Aber wahrscheinlich wird Hollywood bald mit einem Film wie Hackers die Verluste wieder hereinholen. Titelvorschlag: „Rippers". Bis dahin wird den Hollywood-Majors nichts übrig bleiben, als bei Pressevorführungen demnächst auch Bleistifte und Brillen zu verbieten, damit niemand etwas abguckt: Jede Form von Aufzeichnungsgerät ist bei Höchststrafe verboten. Außer der bitteren Klage bleibt nur die erneute Empfehlung an die Produzenten, nach intelligenten Gegenmaßnahmen zu suchen. Techniken, die weder den Spaß am Kinobesuch noch am Abspielen von vor lauter Kopierschutz unbenutzbaren DVDs verderben. Neben der Verantwortung fürs Soziale, die seit den 1960ern in ihr Aufgabenpaket gehört, den Blicken für die Ästhetik und das Politische, muss sich die Filmkritik jetzt auch noch um digitale Sicherheitstechniken kümmern, damit ihr das Objekt nicht abhanden kommt. Und um aus der kriminellen Ecke heraus zu kommen.

Günter Jekubzik
© VdFk 2005

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