Notizen zum Kino 6: Regionale Tageszeitungen

Die bedrohte Vielfalt
Filmkritik in regionalen Tageszeitungen
von Florian Vollmers

Es wird heute wiederholt gesagt, wir freien Filmkritiker sollten nicht so viel jammern. Ich werde das trotzdem tun.

In meinem Vortrag geht es um den Zustand der Filmberichterstattung in den regionalen Tageszei­tungen, wie auch um die Arbeitsbedingungen der überwiegend freien Journalisten, die in diesem Be­reich tätig sind – und im Übrigen einen Großteil der Mitglieder dieses Verbands ausmachen. Die Arbeitshypothese meines Vortrags war der Titel "Die bedrohte Vielfalt". Ich habe dafür mit vielen Freien im regionalen Bereich und mit zuständigen Redakteuren gesprochen und bin leider zu dem Schluss gekommen, dass die Vielfalt nicht nur bedroht ist – vielerorts gibt es sie schon nicht mehr.

Meine eigene Geschichte

Dazu möchte ich mich zunächst kurz vorstellen und mit einem Beispiel beginnen, das die derzeitige Entwicklung im lokalen Tageszeitungsbereich sehr anschaulich zum Ausdruck bringt: Ich habe im Jahr 2001 mein Studium in Frankfurt am Main abgeschlossen, bin dann nach Bremen gegangen, wo ich seit mittlerweile acht Jahren als freier Journalist arbeite. In Bremen gibt es eine einzige regionale Tageszeitung mit monopolartiger Stellung am Markt, den Weser-Kurier. Nach meinem Umzug fing ich bald an, Filmkritiken für den Weser-Kurier zu schreiben: sehr regelmäßig, sehr frei, sehr problemlos. Mein Kontakt war eine filmbegeisterte Kulturredakteurin, die sich zwar in einem anhaltenden Kampf gegen einen Kulturchef, der das Kino verachtete, durchsetzen musste, aber einen festen Stamm an freien Filmkritikern beschäftigte. Die anstehenden Premieren verteilte sie mit Augenmaß unter den Kollegen, Donnerstag für Donnerstag kam eine ansprechende Filmseite zustande – bei der sie den Filmkritikern im Übrigen weder inhaltlich noch stilistisch hineinredete, sondern im Gegenteil persönlichen Stil schätzte und die Entstehung von einzelnen Kritikerprofilen eher begrüßte. In einer kleinen Großstadt wie Bremen, die nur über eine Handvoll Kinos verfügt, die in der Regel sämtliche im Weser-Kurier veröffentlichen Filmkritiken aushängen und damit eine lebhafte Diskussion über Kino am Ort des Geschehens anregen, ist das von besonderer Bedeutung. Einzelne Filmkritiker werden dort als Marke einer Tageszeitung gesehen.

Vor einigen Monaten bekam die Zeitung einen neuen Chefredakteur, der einen radikalen Sparkurs einführte. Wie alle anderen freien Kollegen erhielt ich folgende Mail: "Hallo Herr Vollmers, wir sind von der Chefredaktion angehalten worden, kein Geld mehr für Kinokritiken auszugeben, sprich freie Mitarbeiter einzusetzen. Das tut mir leid für Sie und die anderen, aber bis auf weiteres ist daran nichts zu ändern. Alles Gute wünscht Ihnen …" Das war im vergangenen August.

Seitdem hat sich die Filmberichterstattung der Zeitung massiv verändert. Gab es früher donnerstags ganze Seiten, die sich mit Kinostarts oder anderen Filmthemen beschäftigten, finden diese im mittlerweile nur noch einseitigen Kulturteil der Zeitung entweder gar nicht statt, oder es wird maximal ein Film vorgestellt. Und das meistens durch Übernahme des entsprechenden dpa-Textes oder – wenn es hoch kommt – mit einer Kritik aus der Redaktion, die aber auch nur dann entsteht, wenn ein Redakteur die Gelegenheit hatte, eine Pressevorführung zu besuchen.

Gestern, am 10. Dezember 2009, gab es auf der Kulturseite kein einziges Filmthema, vergangene Woche wurde der dpa-Text zum neuen Woody Alien-Film abgedruckt. Zum Vergleich die Kulturseite vom 15. Januar 2009: Drei umfangreiche Kritiken zu Die Klasse, Twilight und Warten auf Angelina von Hans-Christoph Blumenberg. (Letzteres ein eher randständiges Thema, das wohl heute keine Chance mehr hätte.) Wenn man noch weiter zurückgeht bis ins Jahr 2007 findet man bisweilen die komplette Kinoseite mit vier Filmkritiken von vier freien Journalisten bestückt. Nischenthemen, die über die aktuelle Berichterstattung hinausgehen – aus meiner Feder sind zum Beispiel Artikel zum "Opferkult im nationalsozialistischen Unterhaltungsfilm" oder zur Filmgeschichte Norwegens erschienen wären heute undenkbar.

Die Kritikkultur verkümmert

Aus Göttingen berichtet ein Kollege: «Hier in der Region wird nur noch der regionale Teil der Ta­geszeitungen hergestellt. Film wird in der Regel im Mantel behandelt, der durch Kooperationen mit weiteren Zeitungen von anderswo geliefert wird. Filmpublizistik findet hier nicht mehr statt. Ein Kollege, der früher regelmäßig für die Hamburger Morgenpost aus Cannes berichtet hat, erzählt: Noch vor wenigen Jahren gab es vom Filmfestival in Cannes bis zu 16 Seiten Berichterstattung, wobei etwa die Hälfte von Freien stammte. Im vergangenen Jahr war es eine Seite von einem Freien. In diesem Jahr verdrängte in letzter Minute der Nachruf auf Monica Bleibtreu den Festivalbericht aus Cannes komplett.

Weniger Platz bedeutet automatisch weniger Vielfalt. Aber reduziert wird die Vielfalt auch dann, wenn eigentlich ausreichend Raum zur Verfügung stünde. Das ist der Fall, weil zahlreiche Ta­geszeitungen Kooperationen geschlossen haben; Kulturseiten sind nun immer öfter in verschiedenen Medien in unterschiedlichen Regionen identisch. Ein Beispiel ist die gemeinsame Filmseite des Westfälischen Anzeigers und des Oranienburger Generalanzeigers, die der Ippen-Verlagsgruppe angehören. In München wird das Feuilleton von tz und Münchner Merkur von derselben Redaktion gemacht.

Nun müsste weniger Vielfalt nicht unbedingt auch geringere Qualität heißen. Es ist aber trotzdem so. Ein Grund liegt darin, dass in den Kulturredaktionen immer stärker der Service-Gedanke Einzug hält. Ein Kollege drückt es so aus: Man erwarte von ihm Filmberichterstattung nach dem Motto "Gut ausgehen – gut essen – gut Filme gucken". Bei den Lübecker Nachrichten sind die Filmkritiken im Kulturteil überwiegend abgelöst worden durch einen gemeinsam mit der Ostsee-Zeitung erstellten Service-Teil, in dem die Neustarts in der Regel mit den PR-Texten der Verleiher vorgestellt werden.

Hinzu kommt, dass laut Aussage vieler Kolonnen und Kollegen das Interesse in den Kulturredaktionen der Tageszeitungen spürbar abnimmt – eine Verstärkung des grundsätzlichen Problems, dass Kino als Massenkultur immer als minderwertig neben Theater und Literatur angesehen wurde. Ein Kollege aus Hamburg berichtet, dass es ihm vor zehn Jahren noch möglich war, Festivalberichte aus Afrika unterzubringen. Heute interessiere das dort niemanden mehr. Im Mittelpunkt stünden die aktuellen Kinostarts. Außerdem habe es eine starke Zunahme der Promi-Berichterstattung gegeben.

Die Freie Presse in Chemnitz gestaltet mittlerweile ihre komplette Kinoseite mit ddp-Meldungen. Auch die Ostsee-Zeitung in Rostock und die Nordsee-Zeitung in Bremerhaven machen es inzwischen so. Ein Kulturredakteur des Mannheimer Morgen räumt offen ein, dass Agenturtexte in der unter Druck entstehenden Redaktionsarbeit leichter zu handhaben seien: "Differenzierte Ein­zelbesprechungen, die ästhetische Urteile wagen und viel Sachverstand bezeugen", würden weniger geschätzt als früher.

Ein Kollege aus Süddeutschland, der seit langem als freier Kritiker tätig ist, hat bei regionalen Tageszeitungen einen grundsätzlichen Wandel in der Auseinandersetzung mit Filmkritik festgestellt: Früher habe es eine offene Kritikkultur gegeben. Heute befinde man sich in einer wirtschaftlich angespannten Situation, in der die Presse stärker als Werbeträger der Filmwirtschaft angesehen werde. In ländlichen Regionen gerate man schnell in Konflikt mit den Kinobesitzern, wenn man es noch wagt, eine kritische Sichtweise auf einen Film zu pflegen.

Ein Kulturredakteur des Oranienburger Generalanzeigers fügt hinzu: "Ich bemerke, dass von Seiten unserer Verlagsleitung und Chefredaktion Filmkritiken immer mehr als Freizeitbeschäftigung angesehen werden. Früher konnte ich Pressevorführungen in meiner Arbeitszeit aufsuchen, nun muss ich zusehen, wie ich das nachhole, was ich in dieser Zeit an Arbeit nicht erledige. Da viele Filme mittlerweile nachmittags gezeigt werden, ist mir damit ein PV-Besuch nur bei Highlights möglich."

Konsequenzen für die Kollegen

Dadurch, dass Filmkritik immer weniger Platz einnimmt, schrumpft auch der Honorartopf für freie Journalisten. Filmkritiken werden bei regi­onalen Tageszeitungen ohnehin schlecht bezahlt – ich bin bei meinen Recherchen auf eine Spanne von 15 bis 75 Euro pro Text gestoßen. Als Beispiel die Kinoseite der Kreiszeitung Syke von gestern, von einem freien Mitarbeiter zusammengestellt: Zwei eigens verfasste Kurzkritiken, der Rest dpa-Meldungen. Für diese komplette Seite erhält der Filmjournalist sage und schreibe 120 Euro – wenn er mindestens eine Kritik selbst schreibt. Ihm bleibt die Wahl, die komplette Seite mit Agenturmaterial zu gestalten. Dann erhält er 90 Euro.

Ein Kollege aus Hamburg erhält für einen Festivalbericht aus Cannes 60 Euro, ohne Erstattung seiner Reisekosten. Ein umtriebiger freier Filmjournalist aus Berlin meint: "Der Trend ist klar: Mehr Arbeit für das gleiche oder sogar für weniger Geld. Man muss sehr viel mehr Texte schreiben und anbieten als vor vier bis fünf Jahren, um auf das gleiche Monatsgehalt zu kommen."

Zusätzlich ändert sich das Verhältnis zwischen freien Filmjournalisten und Redakteuren. Oben genannter Kollege schreibt: "Die wenigsten vergeben wirklich noch Aufträge, sondern suchen aus dem Textangebot, das von freien Autoren, Agenturen oder Mediendiensten kommt aus, was am besten passt." Eine Kollegin, die unter anderem für die Stuttgarter Nachrichten, die Märkische All­gemeine, die Nürnberger Zeitung und für Neues Deutschland schreibt oder geschrieben hat, fügt hinzu: "Als freier Filmjournalist wird man nicht mehr – wie früher – als inhaltliche Bereicherung gesehen, sondern als Kostenfaktor."

Wie Filmkritiker zu überleben versuchen

Einige Kollegen sind mit der Streu-Methode erfolgreich: Sie schicken Ihre Texte an möglichst viele Redaktionen in unterschiedlichen Regionen, achten darauf, dass nicht ein und derselbe Text im gleichen Verbreitungsgebiet erscheint, und kommen dann mit einer Handvoll Veröffentlichungen auf ein ansehnliches Honorar. Kollegen, die damit erfolgreich sind, haben sich in der Regel in mühevoller Arbeit einen Verteiler aufgebaut und pflegen ihre persönlichen Kontakte zu den jeweiligen Kulturredakteuren mit großem Aufwand. Ein Berliner Filmkritiker berichtet: "Angerufen – so wie früher – wird man schon gar nicht mehr."

Andere versuchen, Filmthemen mit veränderter thematischer Gewichtung in regionalen Tageszeitungen unterzubringen. Ein Beispiel ist ein aktueller Bericht über die deutsch-norwegische Koproduktion Das Orangenmädchen. Die Überschrift des betreffenden Artikels lautet: "Ein Orangenmädchen mit mitteldeutscher Beteiligung". Die freie Kollegin räumt ein, dass sie ohne den regionalen Bezug (Filmförderung) den Artikel nicht hätte unterbringen können.

Wieder andere Kollegen stellen sich breiter auf: Sie berichten auch über Theater, Literatur und Musik oder schreiben für Verleiher, PR-Agenturen oder arbeiten für Filmfestivals. Das gilt auch für meine Person: Um ausreichend zu verdienen, mache ich seit Jahren Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel für die Nordischen Filmtage Lübeck.

Viele Kollegen schauen angesichts der aktuellen Entwicklungen verbittert in die Zukunft: "Wenn die Zeitungen sich nicht darauf besinnen, dass sie sich in der verändernden Medienlandschaft allein durch die Qualität der Texte und der redaktionellen Bearbeitung hervorheben», sagt einer von ihnen, «schaufeln sie sich ihr eigenes Grab. Wenn die Filmkritik nur noch einer mehr oder weniger besseren Inhaltsangabe gleicht, gibt es keinen Grund für den Leser, dafür Geld auszugeben. Diese Besinnung zur Qualität sehe ich in fast keiner Redaktion." Der Filmredakteur einer mitteldeutschen Tageszeitung befürchtet:  "Womöglich passiert im Filmjournalismus, was im Musikjournalismus mittlerweile Gang und Gäbe j ist. Begeisterte Filmfans schreiben nebenbei kostenlose Texte, was natürlich massiv auf die Qualität geht."

Es gibt Ausnahmen

Allerdings gibt es auch positive Beispiele unter den regionalen Tageszeitungen, die ansprechende Kinoseiten anbieten und weiter auf die Vielfalt freier Filmkritikerstimmen setzen. Die Saarbrücker Zeitung beschäftigt seit Jahren drei feste freie Filmkritiker, die gemeinsam mit zwei Redakteuren jeden Neustart mit einer individuellen Filmkritik vorstellen. Laut zuständigem Redakteur erhalten Arthouse-Filme grundsätzlich mehr Platz. Der für diese Arbeit bereit stehende Etat ist nicht verringert worden. "Ich lege großen Wert darauf, dass das so bleibt", sagt der Redakteur. Hier ist also auch das persönliche Engagement ausschlaggebend. Auch bei der Tageszeitung Die Rheinpfalz konnte die Qualität der Filmberichterstattung gehalten werden. Es gibt regelmäßig Filmkritiken und einmal pro Monat eine Themenseite, auf der Festivals, Dokumentationen, DVD-Erscheinungen behandelt werden. Es werden keine Agenturtexte veröffentlicht, und die Filmkritiken werden zur Hälfte von Freien geliefert. Hintergrund ist hier sicher auch, dass hinter der Rheinpfalz ein gesundes Familienunternehmen steht, dass nicht so stark unter dem Sparzwang steht wie die meisten anderen regio­nalen Tageszeitungen in Deutschland.

Florian Vollmers
© VDFK 2010

Florian Vollmers arbeitet als Autor für Der Schnitt, Szene Hamburg und schrieb für den Weser-Kurier.

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