Heike Hurst gestorben

Unsere geschätzte Kollegin und Verbandsmitglied Heike Hurst ist am
30.11.2012 in Paris verstorben. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir mit
freundlicher Genehmigung durch die Autoren eine Ode an sie, verfasst von
Erika und Ulrich Gregor, erschienen im Schnitt #68 04.2012.

Heike Hurst

Gruß an eine Freundin

Von Erika und Ulrich Gregor

Ein Festival ist erst dann „komplett",
wenn man einige Menschen trifft, die dazu gehören: so den immer
hilfsbereiten, großzügigen Lucius Barre, der unermüdlich Leute
miteinander bekannt macht, zusammenbringt und sich freut, wenn die
neuen Bekannten sich in Gespräche verwickeln. Oder Philipp Bergson,
mit dem man jedes Festival-Abenteuer bestehen kann und dessen
ironisch treffende Kommentare auch düsterste Missgeschicke
erträglich machen und trostlose Programme aufhellen können.

Aber vor allem gehört für uns eine
Person zu einem Festival: das ist Heike Hurst, eine Filmexpertin mit
gleichermaßen deutschem wie französischem Hintergrund, unsere
Freundin und Gesprächspartnerin. Mit niemandem kann man so
leidenschaftlich über Filme streiten wie mit ihr. Sie ist
unermüdlich auf jedem Festival. Natürlich ist sie morgens im ersten
Film – auch bei Festivals, bei denen man es etwas ruhiger angehen
lässt -, und natürlich ist sie abends im letzten. Zwischendurch
muss sie zu Pressekonferenzen oder ein Interview machen – nein,
essen gehen kann sie nicht, das verschlingt zu viel Zeit; so trifft
man sich vor und nach den Filmen, trinkt höchstens einen Espresso
zusammen, und dann muss sie auch schon wieder los. Sie schreibt viel
– und in zwei Sprachen, im Internet sind ihre Festivalberichte und
Beiträge zu finden unter www.programmkino.de. Darüber hinaus
arbeitet Heike auch für „Radio Libertaire", einen unabhängigen
französischen Radiosender, der der „Fédération Anarchiste"
nahesteht, diese gibt auch eine Wochenzeitschrift heraus, „Le Monde
Libertaire", in der Heike Hurst ebenfalls schreibt. Sie schreibt
auch für „Jeune Cinéma" und noch für viele andere
Publikationen, das Internet gibt Auskunft. Aber ihre persönliche
Präsenz, ihre Art, Filme zu verteidigen oder auch zu relativieren,
ja anzugreifen, das ist das Wichtigste.

Mit niemandem kann man so gut wie mit
Heike Hurst die Begeisterung über einen Film teilen. So ging es uns
in Cannes mit dem Film von Léos Carax, „Holy Motors", der das
gesamte Festival spaltete (jetzt auch die deutsche Kritik): wir waren
aufs höchste enthusiasmiert von diesem phantasievollen und
ausufernden Film, konnten uns stundenlang über ihn unterhalten (in
Cannes ebenso wie dann in Locarno) und die Nase rümpfen über seine
„détracteurs" (Verächter).

Die Festivalberichte von Heike Hurst
sind das Beste, was es an Berichterstattung geben kann – von
Präzision, Scharfsinn und persönlicher Handschrift. Da fürs
Internet geschrieben, unterliegen sie keinem Diktat und keiner
Einschränkung. Ihre Texte zu lesen, ist dabei höchst
aufschlussreich und amüsant. Sie sind stilistisch geschliffen.
Manchmal aber auch tief bewegend, dringen unter die Haut. So ihre
Beschreibung des Films „Camp 14 – Total Control Zone" von Marc
Wiese, der in Locarno in der „Woche der Kritik" lief, die
Geschichte eines aus nordkoreanischer Haft entkommenen ehemaligen
Gefangenen. „Eine Geschichte wie von einer Art Kaspar Hauser: ein
Junge wird in einem Lager geboren, Shing-Dong kennt nur Stacheldraht,
Schläge und Hunger. Er denunziert seine Mutter und seinen Bruder,
wohnt ihrer Hinrichtung bei und kann diese Schuld noch heute nicht
loswerden."

Einen besonderen Reiz haben die Texte,
die Heike Hurst auf Französisch schreibt (sie promovierte an der
Universität Paris und lebt in Frankreich) – sie sind von einer
unnachahmlichen Leichtigkeit und Eleganz, in der immer wieder Ironie
entsteht durch die Einschmelzung von Alltagssprache und Jargon in
eine mal literarische, dann wieder journalistische oder
tagebuchartige Ausdrucksform. Vergleichbar ist der Stil, in dem Heike
Hurst französisch schreibt, mit dem Stil der Zeitschrift „Les
Inrockuptibles", in der es die besten Filmkritiken und Texte über
Film zu lesen gibt.

Hier noch Auszüge aus ihrem
französischen Locarno-Bericht: „Die markantesten Debatten waren
die mit Naomi Kawase und Léos Carax, sie nehmen aus dem
zeitgenössischen Schaffensprozess das Intimste und Persönlichste
und gleichzeitig das Universellste". Und ein Zitat von Carax aus
dessen Debatte: „Mitten am Tag über Film zu sprechen, das ist
schon heftig! Kino, das ist die Nacht und ein dunkler Saal." Und:
„'Camille Redouble', diese Farce voller Herz und Komik von Noemie
Lvovsky, heimste den Preis 'Variety' ein, einen gut ausgestatteten
Preis, der ihr für den nächsten Film Butter zum Spinat liefern
wird."

Man müsste die französischen Texte
von Heike Hurst ins Deutsche übersetzen (nicht rückübersetzen, sie
sind original französisch konzipiert!), jedoch würden sie
vielleicht einen Teil ihres Glanzes verlieren. Aber bekannt gemacht
zu werden, das würden sie verdienen.

Foto: Daniel Kothenschulte