Am Sonntag bist Du tot

Von einem Priester, der auszog, seine Gemeinde zu bekämpfen, oder: Wie Werte durch ihre Infragestellung zementiert werden sollen.

Nino Klingler

John McDonaghs Am Sonntag bist du tot ist ein Film zur rechten Zeit. In Gestalt einer kleinen dörflichen Parabel erzählt er nämlich vom Verlust des Vertrauens. Diese Wendung ist ja schon seit längerem im Schwange, um eine Gemeinsamkeit herauszustreichen zwischen all den Krisen – außenpolitischer, kriegsstrategischer, datenschutztechnischer, marktökonomischer oder sonstwelcher Art –, die die redlich verdient geglaubte Gemütsruhe unserer europäischen Gesellschaften schleifen. „Soziales Bindemittel“ hat Jan Phillip Reemtsma das Vertrauen genannt, und wie bei so vielen allzu leicht allzu breit anwendbaren Modewörtern lässt sich seine Funktion dann am besten beschreiben, wenn es verschwunden ist – wenn seine Bindekraft nachgelassen hat und die sorgsam gekitteten Bruchlinien zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auf einmal wieder aufbrechen.

Ohne Glaube ist die Hölle los
„When I was seven years old I was raped by a priest.“ Was soll der die sonntägliche Beichte abnehmende Father James (Brendan Gleeson) so einer Ansage entgegnen? Wie soll ein Vertreter der Kirche das Versagen des ganzen Apparats auffangen, wie kann er das Vertrauen wieder herstellen? Denn der Vergewaltigungsskandal, das wissen wir mittlerweile, war keine Summe von Einzelfällen, sondern ein institutionelles Problem. Und es gibt Institutionen, die, wenn man in sie und in ihr redliches Funktionieren vertraut, auch Vertrauen zwischen den Menschen herstellen. Die Kirche ist dafür wohl das paradigmatische Beispiel. Und Irland ist ein katholisches Land. Bricht das Vertrauen in den Glauben weg, bricht die Hölle los. „On sunday I will kill you“, sagt die Stimme hinter dem Beichtgitter. In sieben Tagen schafft der Mensch das Chaos.

Am Sonntag bist du tot torkelt umher zwischen schwarzer Krimisatire, scharfer Gesellschaftskritik und wildromantischer Postkartenidylle. Der Film folgt Father James, der sich wie ein Sisyphos abmüht, seinen dank Wirtschaftskrise, Werteverlust und eben Kirchenmisstrauen zynisch gewordenen Schäfchen wieder den Glauben an das Gute und vor allem das Vertrauen ineinander einzuimpfen. Dabei verlässt sich Regisseur McDonagh – wie schon bei seinem Vorgänger The Guard – Ein Ire sieht schwarz (2011) – ganz und gar auf das physische Gewicht von Hauptdarsteller Gleeson, der mit seinem Gebaren irgendwo zwischen Schmuseonkel und Gangsterboss der niemals in Frage gestellte Identifikationspunkt des Films ist.

Komplott gegen den letzten Rettungsanker
In zweikampfartigen Dialogszenen trifft Father James auf eine strikt metaphorisch zu verstehende Auswahl menschlicher Karikaturen – ein funktionierendes dörfliches Leben zwischen ihnen kann nicht einmal angenommen werden. Da ist zum Beispiel ein einsam in seinem Herrenhaus mit Geld um sich werfender Investment-Banker (Dylan Moran), der durchdreht, weil er auf keine Buße für seine Sünden hoffen kann: „I feel like I want to feel guilty.“ Es gibt nur mehr den Nachhall christlicher Werte. Oder ein schneidend intelligenter Chirurg (Aiden Gillen), der beim Thema Leben nach dem Tod nur süffisant die Lippen kräuselt und dann die Maschinen eines hirntoten Komapatienten abstellt. Auch Father James selbst ist eine ambivalente Figur: Vor seiner Berufung zum Pfarrer war er ein ganz normaler, den fleischlichen Gelüsten und dem Alkohol nicht abgeneigter Bürger. Aus dieser Zeit hat er noch eine stets misslaunig dreinblickende, suizidale Tochter (Kelly Reilly).

Die Anwesenheit des Priesters ist für alle Dorfbewohner eine Provokation. Father James erinnert sie an das, was sie unwiederbringlich verloren haben. Er ist der Prügelknabe für eine totgelaufene Moderne. Und die Kirche, das wird allmählich deutlich, ist trotz allem noch immer der Rettungsanker. Nur hat hier vor lauter blindem Egoismus niemand mehr die Kühnheit zu glauben. Stattdessen reiben all die verbitterten Zyniker Father James seine Unzulänglichkeit, seine Kompetenzlosigkeit ins Gesicht. Die zu Beginn ausgesprochene Morddrohung ist nicht die verwirrte Agenda eines Einzelnen, sondern ein Komplott. Am Ende – da wurde er schon verprügelt und seine Kirche abgefackelt – bleibt Father James nur trotzig zu verkünden: „My kind will never be gone.“ Den Fieslingen im Film muss das als Drohung erscheinen, aber uns Zuschauern, die mit dem Pfarrer zu sympathisieren und mitzuleiden gezwungen sind, soll hier wohl eine Hoffnung erblühen.

Irritationen im Pilcher-Wunderland
Im Gegensatz zu Aki Kaurismäkis Le Havre (2011), der sich auf nicht unähnliche Weise an einem mikrogesellschaftlichen Märchenkosmos abarbeitete, gibt es hier keine Solidarität zwischen den Figuren. Im Gegenteil, diese Figuren sind alle Psychos. Aber McDonaghs allzu schlaumeiernde Dialoge erreichen selten den wortkargen Witz eines Kaurismäki, die Bilder nie dessen asketische Eleganz. Die allenthalben wie Ruhepole in den Filmfluss eingewirkten Naturaufnahmen der sattgrünen irischen Küstenlandschaft bekommen eine gewisse pastellene Rosmunde Pilcher-Beschaulichkeit nie ganz raus. Obwohl ganz offensichtlich ist, dass McDonagh nur deshalb mit genau diesen gemütlich-romantischen Assoziationen kokettiert, um sie immer wieder genüsslich auszuhebeln. Schockschnitte reißen uns aus der behaglichen Komödienatmosphäre. Die Farben glühen in fiebrigem Neon. Die Bildachsen pendeln schräg in den filmischen Räumen. Am Sonntag bist du tot mutet wie ein Gemälde an, dass aus der Ferne biedermeierlich wirkt, aber sich bei näherem Beschauen als schief aufgehängt, mit Fratzen bevölkert und eigenartig koloriert erweist.

Eine Frage des Blickwinkels

So erzählt der Film auch strukturell von einem Verlust des Vertrauens. Denn wir Zuschauer vertrauen als Medienkonsumenten mit langjähriger Seherfahrung ja darauf, dass sich eine Geschichte, die von bestimmten Figuren bevölkert ist (Dorfkosmos), die mit bestimmten Bildern illustriert ist (Naturromantik), die einer bestimmten Dynamik folgt (gemächlich), sich auch auf eine bestimmte Weise fort- und abwickelt. Aber Am Sonntag bist du tot ist zu ätzend und zu drastisch für den gemütlichen Arthouse-Abend. Dass sich seine prinzipiellen Wertvorstellungen (eine Gesellschaft ohne Glauben geht vor die Hunde) recht wenig von einem gutbürgerlich-konservativen Weltbild unterscheiden, steht dabei auf einem anderen Blatt.
Dieses Dilemma wird vor allem in einer Szene auf den Punkt gebracht: Da pinkelt erwähnter Finanzhai – um den Pfarrer zu nerven, aus Langeweile, weil er es kann – auf Hans Holbein des Jüngeren’ Gemälde Die Gesandten. Er findet es hässlich, vor allem den grauen Fleck in der unteren Hälfte. Was der Film nicht zeigt, aber als subversives Wissen wohl voraussetzt, ist, dass es bei diesem Werk auf den Blickwinkel ankommt. Schräg betrachtet, verschiebt sich die Perspektive, und aus dem matschigen Farbverlauf schält sich die Silhouette eines Totenschädels. Genau so will Am Sonntag bist du tot geschaut werden: aus schiefem Winkel. Denn so wird erkennbar, was einer Gemeinschaft blüht, die nicht mehr auf ihren Pfarrer hört, die nicht mehr lieb und nett zueinander ist, die sich nicht mehr vertraut.

 

(Erstveröffentlichung: critic.de am 24.08.2014 )

Dieser Text wurde gefördert durch die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises  erhält der Autor für das Jahr 2014 ein Stipendium zum Verfassen von Filmkritiken.