Francofonia

Sven von Redens Text zu Alexander SokurowsFrancofonia ist die sechste von 12 Filmkritiken des Siegfried-Kracauer-Preisträgers 2015 im Rahmen seines Stipendiums. Sie wurde beim Kooperationspartner des Preises, der Zeitschrift FILMDIENST veröffentlicht (www.filmdienst.de).

 

Francofoniavon Alexander Sokurow

Sven von Reden

 

Ein idyllisches Bild des Schreckens: Von der großen Galerie des Louvres stehen nur noch die Wände, die Decken sind offenbar schon vor längerer Zeit eingestürzt. Wild wuchernde Büsche bekränzen die Mauerreste, dazwischen öffnet sich der blaue Himmel. Der Boden der Galerie ist übersät mit Trümmern. Alle Gemälde sind von den Wänden verschwunden, lediglich eine kleine unversehrte Statue steht noch auf einem Podest im Vordergrund.

Das Bild entstammt der Vorstellung von Hubert Robert. Der Spezialist für Landschafts- und Ruinenbilder malte Ende des 18. Jahrhunderts mehrere solcher pittoresker Zerstörungsphantasien – ironischerweise zu der Zeit, als er selber einer der Leiter des gerade erst zum Museum umgewandelten ehemaligen Königspalastes war.

Alexander Sokurow zeigt das Gemälde mit dem sperrigen Titel „Phantastische Ansicht der großen Galerie des Louvre als Ruine (II)“ erst spät in Francofonia, es hätte aber auch gut als Mahnung am Anfang stehen können. Geht es doch im Hauptstrang seines Essayfilms um die unwahrscheinliche Rettung des Museums und seiner Kunstschätze vor Raub und Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Zwei Dinge waren dafür die Voraussetzung: Zum einen dass die französische Armee am 14. Juni 1940 Paris kampflos den deutschen Truppen überließ, zum anderen dass einen Monat zuvor Franz Graf Wolff-Metternich zum Leiter des deutschen Kunstschutzes berufen wurde. Dem in Bonn promovierten Kunsthistoriker war die Durchsetzung der Haager Landkriegsordnung eine Herzensangelegenheit. Sie verpflichtet Militärverwaltungen in besetzten Ländern, historische Baudenkmäler und Kunstwerke zu schützen. Zusammen mit dem Leiter des Louvres Jacques Jaujard gelang es ihm trotz zunehmendem Missfallen führender Nazis, die exzeptionelle Sammlung komplett zu erhalten, wenn auch in großen Teilen versteckt in den Kellern von Schlössern im ganzen Land.

Jaujard und Wolff-Metternich sind die beiden Heldenvon Sokurows Film: Zwei nominelle Feinde, die durch ihre gemeinsame Liebe zur Kunst zu Verbündeten wurden. Als der Deutsche nach dem Krieg vor ein amerikanisches Militärgericht kam, setzte sich der Franzose für ihn ein. Wolff-Metternich wurde freigesprochen und 1964 sogar in die französische Ehrenlegion aufgenommen. In Francofoniasieht man die beiden nicht in Archivaufnahmen, sondern in nachinszenierten Sequenzen dargestellt von den Schauspielern Benjamin Utzerath und Louis-Do de Lencquesaing. Sokurow setzt diesen Erzählstrang klar ab vom Rest des Films: Obwohl Francofoniamit einer Digitalkamera gedreht wurde, läuft eine Stereo-Lichttonspur sichtbar am Bildrand mit, als sei der Film auf altem 35mm-Material gedreht worden. Scheinbare Verunreinigungen und Kratzer verstärken noch diesen etwas rätselhaften „falschen“ Materialismus.

In einem zweiten fiktiven Handlungsstrang spielt Sokurow sich selbst. Über eine immer wieder abbrechende Skype-Verbindung spricht er mit einem Kapitän, dessen mit Kunst beladenes Containerschiff in Seenot geraten ist. Das Boot auf dem wogenden Ozean ist eine schöne Metapher für die prekäre Situation der Kunstschätze der Menschheit in den Stürmen der Weltgeschichte.

Die dritte inszenierte Ebene liefert ein weiteres Beispiel für Sokurows eher kreisende Bewegungen um sein Thema. Zwei Geister beherbergt hier der Louvre. Zum einen spukt dort Marianne (Johanna Korthals Altes), die Verkörperung der französischen Republik und ihrer Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, zum anderen als ihr Gegenspieler – Napoléon Bonaparte (Vincent Nemeth). In einer Szene ruft Sokurow Marianne aus dem Off zu, sie solle den Kaiser vertreiben. Doch der lässt sich nicht so einfach wegschicken. Er verkörpert die ambivalente Verbindung von Kunst und Macht. All die Schätze, die er der Sammlung des Louvres hinzufügte den er in typischer Bescheidenheit in Musée Napoleon umbenennen ließ –, waren natürlich die Folge von blutigen Feld- und Raubzügen. Doch sieht man die prachtvollen assyrischen Kunstwerke, die Sokurows Kameramann Bruno Delbonnel in elegant schwebenden Bildern einfängt, kann man darüber heute nur froh sein: Im Louvre sind sie momentan immerhin geschützt vor dem bilderstürmerischen Wüten der IS-Terrorbrigaden.

„Francofonia“ regt immer wieder dazu an, solche gedanklichen Tangenten zu aktuellen politischen Themen zu ziehen. Wenn Sokurow zu Anfang Théodore Géricaults berühmtes Floß der Medusains Bild rückt, dann erinnert das Gemälde unweigerlich an die vielen Bilder von überfüllten Nussschalen, mit denen Flüchtlinge täglich versuchen, das rettende Europa zu erreichen. Wenn er am Anfang aus dem Off über Paris sagt:selbst die glücklichste Stadt kann ein Unglück ereilen, dann konnte er nicht ahnen, wie grausam aktuell dieser Satz nur wenige Monate nach der Premiere seines Films auf den Filmfestspielen von Venedig werden sollte.

Am interessantesten wird „Francofonia“ aber immer dann, wenn Sokurow Parallelen zu Russland zieht und zu dessen – akut wieder problematischem – Verhältnis zu Europa. Schon in seinem Meisterwerk „Russian Ark“ hatte er in einer kurzen Szene auf die Geschichte der Sankt Petersburger (damals Leningrader) Ermitage im Zweiten Weltkrieg hingewiesen. Diesen Faden nimmt er hier wieder auf. Das bedeutendste Museum der Sowjetunion kam wesentlich weniger glimpflich davon als der Louvre. Die Ermitage musste nicht nur viele Bombentreffer hinnehmen, in ihren Kellern stapelten sich auch die erfrorenen und verhungerten Leichen der Blockade durch die deutsche Armee. In „Francofonia“ sind erschütternde Archivbilder zu sehen von der belagerten Stadt, die insgesamt eine Million Menschen verlor. Nicht dem alten Erzfeind im Westen, sondern im Osten zeigte Hitler-Deutschland seine hässlichste Fratze.

Es wäre schön, wenn man die Kunst von der Geschichte trennen könnte“, schreibt Sokurow im Presseheft zu „Francofonia“. Doch er weiß, dass dies unmöglich ist. Am Ende bleibt in diesem für den Russen ungewöhnlich suchenden und mit sich selbst hadernden Film auch die Erkenntnis der eigenen Machtlosigkeit: Denn alle Künste der Welt – die Filmkunst inklusive – vermögen der menschlichen Barbarei letztlich kein Ende zu setzen.