Zeig mir Deine Wunden

Zum Tod des langjährigen tip-Filmredakteurs Volker Gunske (7.1.1962 – 25.5.2016)

So viele Filme, so viele Stunden im Kino, so viele Tage und Nächte in der Redaktion in der Potsdamer Straße und am Alexanderplatz, im Berlinale-Vorfieber, im Gespräch miteinander, mit den Autorinnen und Autoren, mit den Freunden und Kollegen. So viel Witz und so viel professionelle Gelassenheit.
Volker hat über zwanzig Jahre die Filmlandschaft Berlins geprägt, anfänglich, in seinen ersten, souveränen Schritten als freier Autor für die taz, wo er Filmkritiken schrieb, aber auch pointiert mit seiner eigenen Provinzjugend abrechnet – oder mit jungen Berliner Szenemagazinen für Yuppies (sorry, „Zitty“!, so sah er Euch damals).
Mit dem Freund Volker Heise, der mit ihm nach dem Abi aus Niedersachsen ins freie, undergroundige Westberlin emigriert war, erfand er bizarre Schlagersendungsformate für Radio 100, knüpfte dort lebenslange Freundschaften, lernte das Redakteurshandwerk und schrieb weiter über Kino und das Stadtleben von Berlin.

Anfang der 1990er Jahre begann Volker schließlich dort zu arbeiten, wo seine Arbeit die größte Wirkung entfalten sollte, erst als freier Autor, dann fest in der Redaktion des tip Magazins, das zwanzig Jahre zuvor als Plattform für die Berliner Programmkinos gegründet worden war.
Als Filmredakteur hat er beim tip die Hochblüte des Stadtmagazinjournalismus erlebt, und später die Umwälzungen der Medienlandschaft begleitet, den digitalen Wandel von Journalismus und Kino, Krisen – und immer wieder neuen Aufbruch.
Der tip war in den Neunzigern so umfangreich und schwer, dass man sich doppelt überlegen musste, ihn durch die Stadt zu schleppen, aber für jemanden, der wirklich cinephil war, gab es keine Alternative. Alleine der Filmteil hatte mit dem Kino-A-Z zusammen mehr als vierzig Seiten, mit langen Interviews und Features alle zwei Wochen neu, ein vielgliedriges Konzert aus Reportagen, Interviews, Kritiken und Meinungsstücken. Dieses Ressort zu gestalten, bedeutete eine kollektive Autorenschaft anzustreben, die über eigene Texte hinaus ging, und die Volker als Redakteur mit Christoph, Katja und in unseren gemeinsamen zehn tip- und Freundesjahren mit den rund zwanzig Autorinnen und Autoren der Filmredaktion mit so viel Lust gestaltete.

Volker hat an Filmen gemocht, was er auch an Menschen geschätzt hat. Unverstelltheit, Direktheit, undogmatisches Denken, kompromisslose Analytik, ein Ungeschütztsein, das in allen Genres sichtbar werden kann. Dresen, Schmidt, Veiel, Tykwer, Akin, Coppola, Panahi, Kaurismäki, von Trier, Siegel, Hawks: Das Kino, das er mochte, sollte gerne weh tun und die Wunden der Helden (von Alan Baron bis Bruce Willis) sichtbar machen, es durfte geschmacklos sein, wütend, grotesk, anrührend. Wenig konnte da an Bedeutung heranreichen, nur Fußballgöttern (Hertha!) und realen Liebesmenschen huldigte er mehr.
2011, da war Volker schon nach einer schweren, glücklich überstandenen Operation im Jahr 2009 ein Privatier geworden – mit lustvollen Ausflügen zurück in die tip-Filmkritik und zu Radio Eins –, haben wir ihn gebeten, den tip-Nachruf auf Bernd Eichinger zu schreiben, „unseren liebsten Feind“, wie es in der Überschrift hieß. Es war ein vollendeter Volker-Text: Persönlich, aus der Schilderung einer persönlichen, nervösen Begegnung entwickelt, den anderen in seinen Eigenheiten anerkennend (trotz der aufrechterhaltenen Kritik am Finanzierungsmodus des Deutschen Filmpreises). Der Text mündete in eine Charakterisierung Eichingers, die auch Volker in seinen entschiedenen, politischen Autorenmomenten gut beschreibt: „Eins war klar: es würde bestimmt nicht lauwarm, ausgewogen und wohltemperiert sein, sondern wuchtig und voll auf die Zwölf“. Das war die lustvolle Seite auch von Volkers Filmkritik. Die andere war die Sorgfalt, der Respekt und die Loyalität, mit der er mit den Autoren des tip und mit ihren Texten arbeitete.

Am Mittwoch, den 25. Mai 2016 ist Volker gestorben, nach einer dramatischen Zuspitzung der Krankheit, mit der er so lange erfolgreich gekämpft hat. Seine Frau Brenda und seine Jugendfreunde haben ihn bis zum letzten Augenblick begleiten dürfen. Wie sehr und in welchen besonderen Spuren in seinen Texten und Berlingeschichten immer wieder auch ein Stück Autobiographie steckt, können seine Freunde und nahen Kollegen herauslesen. Manchmal sind die Zeichen offen, immer wieder versteckt. Vielleicht lässt sich mehr darüber sagen, auf seiner Trauerfeier im Kino International, wenn wir an Volker denken werden, untröstlich und glücklich, dass wir ihm begegnen durften.

Robert Weixlbaumer

03.06.2016